KI – zwischen Übertreibung und zählbarem Erfolg

Der Aktienmarkt steht noch immer im Bann von KI, aber die Spitze des Hypes scheint überschritten. Künftig werden Anwendungen in vielen Sektoren hinzukommen. Allerdings bestehen auch Risiken.

Mit der enormen Aufmerksamkeit für ChatGPT erreichte das Schlagwort «Künstliche Intelligenz» (KI) vor mehr als anderthalb Jahren die breite Öffentlichkeit. Seither stehen vor allem sogenannte generative KIs – wie Bildgeneratoren oder Chatbots – im Zentrum des Interesses. Möglich wurde diese Entwicklung durch Sprachmodelle, die eine natürlich und schlüssig wirkende Kommunikation erlauben. Wie gut diese Modelle ihre Arbeit verrichten, konnte man bereits 2021 sehen. Damals löste ein von Google präsentiertes Sprachmodell eine Diskussion aus, ob dieses System ein Bewusstsein entwickelt habe.

Leistungsfähige Algorithmen

Letztlich sind die Sprachmodelle aber nur Programme, die mit Wahrscheinlichkeiten arbeiten, um eine höchstwahrscheinlich passende Antwort zu finden. Dass eine Antwort vernünftig klingt, bedeutet jedoch nicht, dass sie inhaltlich richtig ist. Sie könnte falsch sein – und zudem sind generative KIs auch «kreativ» genug, Fakten zu erfinden. Diese nach wie vor bestehende Neigung von Chatbots zum «Halluzinieren» sollte bei der Anwendung nie aus den Augen verloren werden. Gerade im geschäftlichen Einsatz oder für kritische Probleme ist eine genaue Überprüfung der Resultate angezeigt. Vermutlich wird uns dieses Problem weiterhin verfolgen, da auch grössere Datenmengen nicht zu helfen scheinen.

Dennoch haben wir es bereits mit sehr leistungsfähigen Algorithmen zu tun, zumal sie die Kommunikation zwischen Mensch und Computer signifikant verändern. Intelligent sind diese Algorithmen aber nicht. Von einer «Künstlichen allgemeinen Intelligenz» mit kognitiven Fähigkeiten sind wir nach wie vor noch meilenweit entfernt. Durch den starken Fokus der Allgemeinheit auf generative KIs, namentlich ChatGPT, fällt die schon seit Längerem bestehende Rolle von KIs häufig unter den Tisch. Generative KI mögen der letzte Schrei sein, aber sie sind nur eine Facette.

Die Nutzung von KI hat schon vor langer Zeit den Massenmarkt erreicht. Sie begegnet Nutzern bereits regelmässig bei der Internetsuche, der Spracherkennung oder bei Spielen und arbeitet dabei sehr viel zuverlässiger als KI-basierte Chatbots. Der Schlüssel liegt in der immer höheren Leistungsfähigkeit von Chips, die riesige Datenmengen mit immer besseren Algorithmen systematisch bearbeiten können. Dies wird durch künstliche neuronale Netze und mehrschichtiges Lernen (Deep Learning) erreicht. 

Höhepunkt des Hypes scheint überschritten

Technologische Durchbrüche lösen immer mal wieder einen Begeisterungssturm aus, sowohl bei Nutzern als auch bei Anlegern. ChatGPT kann mit seiner rasant gewachsenen Anhängerschaft sicher in Anspruch nehmen, die Öffentlichkeit im Sturm erobert zu haben. Das hat auch die Fantasie des Kapitalmarktes beflügelt und spätestens mit dem sprunghaften Anstieg der Nachfrage nach Chips von Nvidia, brachen alle Dämme. Betrachtet man die Anzahl der Erwähnungen von KI bei S&P-500-Unternehmen anlässlich der Präsentationen der Quartalszahlen (Abbildung 1), kann man zumindest einen sehr starken Anstieg des Interesses konstatieren. Es könnte aber auch ein Anzeichen einer Übertreibung sein. Tendenziell scheint die Spitze des Hypes hinter uns zu liegen. 

Wichtig bleibt in diesem Kontext jedoch, dass sich der Kapitalmarkt bei der Abschätzung der Folgen einer neuen Technologie gerne mal verschätzt. Häufig wird ein zu optimistisches Bild der Zukunft gezeichnet. Die Dotcom-Bubble von Ende der 1990er-Jahre ist ein ganz gutes Beispiel dafür. Nach der anfänglichen Euphorie bewegt sich der Fokus nun langsam auf die Wirtschaftlichkeit. Zunächst bedeutet der Schritt zu KI für die Mehrheit der Unternehmen mehr oder minder grosse Ausgaben, die die Profitabilität belasten. Die Frage, ob und wie viel Umsatz mit den neuen Möglichkeiten generiert werden kann, bleibt häufig noch unbeantwortet. Dennoch scheint mehr Realismus eingekehrt zu sein, sowohl was die Fähigkeiten generativer KIs anbelangt als auch beim Gewinnpotenzial. Kursrückschläge bleiben allerdings im Bereich des Möglichen.

Marcus Bäumer, Finanzanalyst
«Von einer KI mit kognitiven Fähigkeiten sind wir noch sehr weit entfernt.»
Marcus Bäumer, Finanzanalyst
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Das Fundament wird breiter

Es ist nicht weiter überraschend, dass sich der Markt noch immer stark auf den Technologie-Sektor konzentriert. Anfangs drehte sich alles um Nvidia, denn die Grafikchips des Unternehmens stecken in fast allen KI-Systemen. Die enorme Nachfrage nach den Chips und dem damit verbundenen Gewinnwachstum gibt den Investoren Recht, die Nvidia als die zentrale KI-Aktie einschätzen. Allerdings baut nicht nur Nvidia Chips für KI-Anwendungen. Im Halbleiter- Sektor hat sich die Bandbreite der beachteten Aktien mittlerweile stark erweitert. Sie reicht von Software für den Entwurf von Chips über die Hersteller von Maschinen zur Produktion bis hin zu Unternehmen, die die eigentlichen Chips produzieren. Diese Unternehmen profitieren teilweise sehr direkt vom Erfolg von Nvidia. Bei der Art der Halbleiter sind längst auch besonders schnelle Speicher, Chips für die Vernetzung und Halbleiter für spezielle KI-Anwendungen in das Blickfeld gerückt.

Auf der Nutzerseite entfällt der Grossteil des Interesses ebenfalls noch auf den Technologie- und Kommunikations- Sektor. KI spielt beispielsweise in der Online- Werbung eine zentrale Rolle. Sie sorgt dafür, dass Suchmaschinen die passenden Ergebnisse finden und dem Nutzer Werbung möglichst optimal zugespielt werden kann. Unternehmen in diesem Bereich investieren schon seit Jahren in KI und haben bereits den Nachweis angetreten, dass sie damit Geld verdienen können. Allerdings sorgt das derzeitige Wettrüsten bei KI dafür, dass das Gewinnwachstum kurzfristig leiden wird. Das ist ein Grund für unsere negative Haltung zum Kommunikations-Sektor. Viele Software-Unternehmen forcieren den Einsatz von KI in ihren Produkten stark, denn sie versprechen sich davon zusätzliches Umsatzpotenzial oder zumindest Effizienzgewinne.

KI als struktureller Wachstumstreiber

Auch wenn Unternehmen ausgezeichnet positioniert scheinen, ist der langfristige Erfolg nicht sicher. Der Technologie-Sektor ist sehr innovativ und zuweilen bringt er disruptive Unternehmen hervor. Entscheidend ist jedoch, dass es sich bei KI um einen starken strukturellen Wachstumstreiber handelt. Die Abgrenzung zu Digitalisierung oder Big Data mag fliessend sein, aber die Bedeutung dieser Wachstumstreiber lässt sich gut an der Performance des Technologie-Sektors ablesen (Abbildung 2).

Zu der Verbreiterung der Diskussion gehört, dass auch ausserhalb des Technologie- und Kommunikations-Sektors KI-Anwendungen in den Blickpunkt rücken. Es ist nicht überraschend, dass zu den diskutierten Bereichen der Finanz-Sektor gehört. Hier werden Algorithmen zur Verhinderung von Betrug und zur Abschätzung von Risiken eingesetzt. KI spielt zwar eine stark untergeordnete Rolle bei unserer Einstufung des Sektors mit Übergewichten, aber Banken können im Massengeschäft mit innovativen Technologien hohe Skaleneffekte realisieren. Damit wird Künstliche Intelligenz zu einem Faktor bei der Wettbewerbsfähigkeit.

Auch im Industrie-Sektor sind KI und maschinelles Lernen altbekannte Themen. Zu der Überwachung der Produktion und dem Finden von Fehlern könnten sich künftig noch die Optimierung von Prozessen und die Unterstützung von Mitarbeitern gesellen. Im Gesundheitssektor scheint ein zunehmender Einsatz ebenfalls denkbar. KI scheint prädestiniert zu sein, um in der Arzneimittelforschung und bei der Analyse von bildgebenden Verfahren zu unterstützen. Hier können sie ihre Stärken bei der Analyse riesiger Datenmengen ausspielen.

Marcus Bäumer, Finanzanalyst
«Die Anwendung von KI dürfte die Wettbewerbsfähigkeit deutlich beeinflussen.»
Marcus Bäumer, Finanzanalyst

All diesen Einsatzfeldern ist gemein, dass sie erheblichen Einfluss auf die Wettbewerbsfähigkeit haben dürften. Das dürfte sowohl für die Effizienz innerhalb des Unternehmens gelten als auch für die Qualität der Produkte. Allerdings wird es vermutlich einige Zeit brauchen, bis der Einsatz Wirkung entfaltet. Zudem wird der Erfolg weit weniger leicht ablesbar sein als beispielsweise im Falle von Nvidia, wo ein Blick auf den Umsatz mit Rechenzentren ausreicht. 

Mittlerweile hat auch die Erkenntnis eingesetzt, dass mit dem Wettrüsten in den Rechenzentren ein höherer Stromverbrauch einhergehen wird. Die dadurch ansteigende Nachfrage nach Strom ist einer der Gründe für unsere positive Haltung zum Versorger-Sektor. Sowohl nichtregulierte Stromerzeuger als auch Betreiber von Stromnetzen dürften profitieren.

KI, quo vadis?

KI ist einer der grossen technologischen Brüche, die langfristig ihre Wirkung entfalten. Bei der Einordnung der Auswirkungen ist mehr Realismus eingetreten und in einigen Fällen wohl auch Ernüchterung. Es dürfte jedoch schwieriger werden, die langfristigen Gewinner auszumachen. Oft genug sind die künftigen Stars nicht an der Börse gelistet, wie das Beispiel OpenAI zeigt. Bei Technologie- und Kommunikations-Aktien ist die Gruppe der möglichen Profiteure grösser geworden, was das Thema in den Sektoren breiter abstützt. Dennoch sind die Erwartungen sehr hoch. Daraus ergibt sich bei allem Potenzial auch ein Risiko für Enttäuschungen, zumal die Frage des Marktpotenzials.

Als Nächstes dürfte sich die Anwendung von KI auf mehr und mehr Sektoren ausdehnen. Nach einer Phase der Investitionen und der Entwicklung von Anwendungsfeldern sollten sich mittelfristig die Früchte der Arbeit einstellen. Die Fortschritte in der Produktivität und verbesserte Produkte werden sich zu einem Wettbewerbsvorteil entwickeln. Der derzeitige Versuch des Kapitalmarktes, im Technologie-Sektor die Gewinner von den Verlierern zu unterscheiden, wird dann auch in anderen Sektoren eine Rolle spielen. Allerdings wird es schwieriger sein, diese zu finden.


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